26/09/2024 0 Kommentare
Bericht zur Synodalversammlung: Präventionsschutz vor sexualisierter Gewalt
Bericht zur Synodalversammlung: Präventionsschutz vor sexualisierter Gewalt
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Bericht zur Synodalversammlung: Präventionsschutz vor sexualisierter Gewalt
Foto: Frank Knüfken (links), Präventionsbeauftragter im Ev. Kirchenkreis, im Gespräch mit Karin Hester, Leitung Hilfe für Frauen der Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen, und Reinhold Munding, freie Beratungspraxis, Sexual- und Familientherapeut in Recklinghausen.
Recklinghausen - Am Donnerstag, 19. September 2024, fand die Synodalversammlung zum Thema Präventionsschutz vor sexualisierter Gewalt im Ev. Kirchenkreis Recklinghausen und zur Aufarbeitungsstudie ForuM zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie statt.
Eingeladen hatte der Präventionsbeauftragte Frank Knüfken, beschlossen wurde die Versammlung auf der Synode am 15. Juni 2024. Rund 45 Synodale kamen im Saal des Haus des Kirchenkreises zusammen. Themen der Versammlung: Verantwortung auf Kirchenkreisebene und in den Gemeinden wahrnehmen sowie die Aufarbeitung und Prävention und damit dringend benötigte Veränderungen in einem offenen Dialog entwickeln. Ein ambitioniertes Vorhaben, was sich in nur 2 Stunden nicht umfassend bearbeiten ließ.
Allerdings gab es genügend Zeit und ansprechende Formate, dem komplexen Thema näher zu kommen. Nach einer Begrüßung von Superintendentin Karpenstein übernahm Frank Knüfken die Moderation und begrüßte Julia Borries, Leiterin der Erwachsenenbildung und Multiplikatorin für Schulungen im Kirchenkreis. Sie fasste in einer Präsentation die Ergebnisse der im Januar veröffentlichten ForuM-Studie wieder. Der Inhalt der Studie ist zugleich Namensgeberin: „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“.
Folgende Eckdaten stellte Julia Borries vor:
* BETROFFENE: In den vorläufig 2.225 ermittelten Missbrauchsfällen war die Mehrheit der Betroffenen unter 14 Jahre alt. Die Taten waren laut Studie meist geplant und fanden mehrfach statt. Nach einer Schätzung der Forscher liegt die tatsächliche Zahl der Betroffenen jedoch deutlich höher. Die Forscher sprechen von 9.355 möglichen Betroffenen, die eine Durchsicht der Personalakten hätte ergeben können.
Die Schwere reicht von Taten ohne direkten Körperkontakt (Aufforderung zum Ansehen pornografischen Materials) bis hin zu analer oder genitaler Penetration, was dem Straftatbestand einer Vergewaltigung entspricht. Besonders gefährdet waren Kinder und Jugendliche, die sich in geschlossenen Institutionen befanden, etwa in Heimen oder auch im Pfarrhaus. Während bei den Fällen in der Diakonie die Opfer mehrheitlich männlich waren, ergibt sich in den Fällen, in denen die Täter Pfarrer waren, ein höherer Anteil von Mädchen und jungen Frauen. Tatorte waren Gemeinden, etwa im Musik- oder Konfirmandenunterricht, Heime, Pflegeheime, die Jugendarbeit, Pfarrfamilien, Schulen und Internate.
* UMGANG MIT BETROFFENEN: Betroffene erlebten zumeist kaum Unterstützung und mangelnde Sensibilität, wenn sie bei kirchlichen Stellen Taten anzeigten. Ihre Darstellung wurde laut Studie angezweifelt, die Beschuldigten geschützt. Betroffene wurden zudem mit Wünschen nach Vergebung konfrontiert, ohne dass eine angemessene Auseinandersetzung mit der Tat stattfand.
* BESCHULDIGTE: Die Beschuldigten waren überwiegend männlich, im Durchschnitt 39,6 Jahre alt und verheiratet zum Zeitpunkt der ersten Tat. Wie die Forschenden ermittelten, waren viele Täter auch Mehrfachtäter. Auf einen Mehrfachbeschuldigten kommen demnach fünf Betroffene. Gegen knapp 61 Prozent der beschuldigten Pfarrer wurde mindestens ein Disziplinarverfahren geführt. Gegen 45,4 Prozent gab es eine Anzeige.
* KIRCHLICHE HALTUNG ZUR AUFARBEITUNG: Laut Studie wurde das Thema Aufarbeitung von Missbrauch in der evangelischen Kirche und der Diakonie erst spät, nämlich 2018, öffentlich angepackt. Bei der Aufarbeitung und auch bei der Prävention sehen die Forscher aber großen Nachholbedarf. Fast immer waren es demnach Betroffene, die Aufarbeitung verlangten und initiierten. Die evangelische Kirche müsse Missbrauch endlich als Teil der eigenen Geschichte und Gegenwart verstehen, so das Resümee der Forscher. So wurde von sexuellem Missbrauch als Problem in den eigenen Reihen abgelenkt: Das sei nach Auffassung der Institution ein systematisches Problem der katholischen Kirche wegen des Zölibats, der Sexualmoral und strengen Hierarchien. Wenn es Fälle in der evangelischen Kirche gebe, dann in Heimen der Diakonie in den 50er und 60er Jahren, sowie durch die Liberalisierung des Umgangs mit Sexualität in den 70er und 80er Jahren.
Ausführliche Informationen zur ForuM-Studie gibt es auf der Website des Forschungsverbundes. Eine dringende Leseempfehlung ist die 37-seitige Zusammenfassung der Studie.
Anschließend berichteten Frank Knüfken und Christian Stöppelmann zum Stand der Präventionsarbeit im Kirchenkreis und in der Ev. Kirche von Westfalen. So sind im Kirchenkreis Recklinghausen mittlerweile ca. 400 geschulte Menschen, ein Großteil davon kommt aus der Jugendarbeit. In der EKvW sind es mittlerweile 4732 Menschen, die in 263 Veranstaltungen geschult wurden. Zu den Meldungen Sexualisierter Gewalt: Im laufenden Jahr 2024 gab es 50 Meldungen bei der Meldestelle der EkvW. Im ganzen letzten Jahr waren es rund 30 Personen, die sich an die Meldestelle gewandt haben. Die Meldestelle der EKvw ist nun besetzt mit Marion Neuper und Jelena Kracht (beide mit jeweils 30 Arbeitsstunden). Alle Infos zur Meldestelle finden sich HIER.
Als besonderes Ziel gilt es nun, im Kirchenkreis eine Sprachfähigkeit zum Thema herzustellen. „Es wird eine zentrale Aufgabe sein, die Menschen, die vor Ort Kirche abbilden, sprachfähig zu machen. Über dieses Thema kann und darf geredet werden. Das gehört nicht in irgendeine Schmuddel- oder Tabuecke. Der Umgang mit den Betroffenen und auch mit den Tätern muss sich innerhalb der Kirche gewaltig ändern.“ sagt Matthias Schwarz, Betroffener von sexualisierter Gewalt und Mitglied im Beteiligungsforum, Interview hier: Missbrauchsfälle in Kirche: Betroffener kämpft für »Kulturwandel« (giessener-allgemeine.de)
So begrüßte Frank Knüfken Karin Hester, Leitung Hilfe für Frauen der Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen und Reinhold Munding, freie Beratungspraxis, Sexual- und Familientherapeut in Recklinghausen. Die beiden berichteten aus ihren Arbeitsfeldern und über die jeweiligen Erfahrungen im Bereich sexualisierte Gewalt aus dementsprechend unterschiedlichen Perspektiven. Es entstand ein guter Austausch mit den anwesenden Synodalen. Schockiert zeigten sich nochmal alle über das Ausmaß und die Zahlen zur Verbreitung sexualisierter Gewalt in unserer Gesellschaft.
Zuletzt folgte ein digitaler Vortrag von Prof. Dr. Andreas Kruse, bis zuletzt Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg und Mitglied des Forschungskonsortiums der MHG-Studie. Die MHG-Studie war ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, dass den sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in Deutschland und begünstigende Strukturen erfasste und untersuchte, das in den Jahren 2014 bis 2018 von einem Forschungsverbund aus Experten mehrerer universitärer Institute durchgeführt wurde. Prof. Kruse berichtete eindrücklich und sehr persönlich von seiner Beteiligung an der MHG-Studie. Einfühlsam machte er auf das Leid der Betroffenen aufmerksam, die unter den ihnen angetanem Leid teilweise ihr Leben lang litten. Er berichtete über bestimmte Betroffenengruppen und die Täterprofile, die im Rahmen der MHG-Studie klassifiziert wurden.
Als letzter Tagesordnungspunkt berichtete Frank Knüfken über die Gründung des Beirates, der in Zukunft die Präventionsarbeit im Kirchenkreis begleiten soll. Bereits feststehende Mitglieder sind Karin Hester, Reinhold Munding, Julia Borries, Saskia Karpenstein und Frank Knüfken. Interessierte sind eingeladen, sich bei Frank Knüfken zu melden. Der Beirat tagt zweimal jährlich. (JB)
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