
11/09/2025 0 Kommentare
„Geistliche Durchdringung“ – Reform mit Esprit?!
„Geistliche Durchdringung“ – Reform mit Esprit?!
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„Geistliche Durchdringung“ – Reform mit Esprit?!
Recklinghausen - Unter dem „unerotischen, aber sehr treffend“ (Norbert Friedrich) formulierten Titel „Teilung und Zusammenlegung von Kirchenkreisen in der Ev. Kirche von Westfalen in Geschichte und Gegenwart“ fand am 5. September 2025 im Haus des Kirchenkreises Recklinghausen (Limperstr. 15) die 7. Studientagung zur Geschichte von Kirchenkreisen statt.
Es handelte sich zugleich um das 35. Jubiläum des „Instituts für Kirchliche Zeitgeschichte des Kirchenkreises Recklinghausen“ (IKZG-RE), einer EKD-weit singulären Einrichtung des Kirchenkreises Recklinghausen. Das Thema der Tagung war aktuell, weil es gegenwärtig um die erneute Zusammenlegung der 1961 geteilten Kirchenkreise Recklinghausen und Gladbeck-Bottrop-Dorsten geht. Pfarrerinnen und Pfarrer, Synodale, Presbyter und Presbyterinnen hatten also Gelegenheit, über Fragen zu diskutieren, die ihre Arbeit und das Leben in ihren Gemeinden zukünftig stark betreffen werden. Etwa 40 Teilnehmende (inkl. der Referentinnen und Referenten) nahmen das Angebot dieser Fachtagung wahr. Die Tagung fand in Kooperation mit dem Ev. Kirchenkreis Recklinghausen, dem Hans Ehrenberg-Verein und der Ev. Akademie Recklinghausen statt.
Nach Grußworten für die Stadt Recklinghausen (Bürgermeister Andreas Leib) und den „Verein für Westfälische Kirchengeschichte“ (Pfr. Thomas Ijewski) hielten zunächst Peter Burkowski, Superintendent des Kirchenkreises Recklinghausen von 1996-2012, und Albrecht Geck, ehrenamtlicher Leiter des Instituts seit 2010, die Geschichte des Instituts Revue passieren. Das Institut wurde vor 35 Jahren durch den damaligen Superintendenten Rolf Sonnemann (1940-1994) gegründet. Erster Leiter war Helmut Geck (1931-2010), der zuvor schon zum Kirchenkampf im Kirchenkreis Recklinghausen veröffentlicht hatte. Es gab zahlreiche Höhepunkte der Institutsgeschichte bis 2010, darunter die große Ausstellung zum 100. Jahrestag der Geschichte des Kirchenkreises Recklinghausen (bis 1961 mitsamt der Geschichte des Kirchenkreises Gladbeck-Bottrop-Dorsten). Nach Gecks Tod übernahm dessen Sohn Albrecht Geck die Leitung. Höhepunkte während seiner Zeit sind bisher sicherlich das „Dreifachjubiläum im Kirchenkreis Recklinghausen“ und die bundesweit zur Kenntnis genommene Ausstellung im Institut für Stadtgeschichte „Luther im Visier der Bilder“, beide 2017. Am Ende seines Referates formulierte Geck vier Gründe, warum unsere Kirche und in ihr der Kirchenkreis Recklinghausen die regionale Kirchengeschichtsschreibung auch heute braucht und in Zukunft weiter brauchen wird. Sie werden am Ende dieses Beitrags zitiert.
Nach diesem Einstieg folgte eine Einführung in die Thematik der Tagung durch Norbert Friedrich. Im Anschluss daran gaben Jürgen Kampmann und Albrecht Geck zunächst einen Überblick über die unmittelbaren historischen Hintergründe. Bei der ersten Teilung des Kirchenkreises Recklinghausen 1932 verlor der Kirchenkreis die Kirchengemeinden nördlich der Emscher (z.B. Buer). Grundsatz der Teilung war damals, dass sich die kirchlichen den kommunalen Grenzen möglichst anzupassen hatten. Nach dem Krieg folgte man dagegen dem Grundsatz der „persönlichen Überschaubarkeit“. Der immense Bevölkerungszuwachs durch Zuwanderung machte die Herstellung kleinerer Kirchengemeinden und Kirchenkreise erforderlich, die der einzelne Pfarrer bzw. Superintendent überschauen konnte, um persönliche Kontakte herzustellen und zu pflegen. Nach diesem Grundsatz erfolgte z.B. die Teilung der Kirchenkreise Münster (1953), Lüdenscheid (1959), Dortmund (1960), Recklinghausen (1961) und Soest (1964). Da in Recklinghausen die Kirchengemeinde Gladbeck-Zweckel gegen eine Teilung votierte, musste diese durch die Landessynode beschlossen werden. Aus heutiger Sicht fiel auf, dass die Teilung damals weder finanziell noch organisatorisch, sondern allein geistlich begründet wurde. Die Gemeinden sollten seelsorgerlich besser „durchdrungen“ werden.
Im praktischen Teil zeigte Ulf Schlüter, der theologische Vizepräsident der Ev. Kirche von Westfalen, anhand der Zahlen aus allen Kirchenkreisen, dass die Kirche aktuell an einem Wendepunkt steht und zukünftig mit weniger Geld, Gebäuden und Personal wird auskommen müssen. Gefordert sei dabei der Mut zu größeren Formen und Räumen. Dem stimmte Peter Burkowski zu und plädierte für ein bescheideneres, attraktiveres Zukunftsbild der Kirche, einer Kirche, die vielfältiger, deutlich kleiner, aber gut vernetzt die christliche Botschaft zum Ausdruck bringt.
In seiner spontan formulierten Zusammenfassung benannte Traugott Jähnichen ein Dreieck von „Pragmatik“, „regionaler Identität“ und „geistlich-theologischem Auftrag“ als Bezugsrahmen für jede Strukturreform der Kirche. Diese habe die Funktionsfähigkeiten der kirchlichen Strukturen angesichts z.B. allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungen (Demographie, etc.) mit den in ihren Prägekräften nicht zu unterschätzenden regionalen Gegebenheiten (soziale Struktur, historische Herkunft, etc.) und den Inhalten und Formen der Verkündigung auszubalancieren. Regionalkirchenhistorische Kenntnisse der Leitenden sind also unabdingbar, um überhaupt die regionalen Bedarfe (abgesehen von abstrakten Kürzungsritualen) in den Blick zu bekommen. Jähnichen würdigte abschließend noch einmal die 35jährige Geschichte des IKZG-RE und dankte seinem Leiter Albrecht Geck für die Initiative und die Organisation der Tagung. Dieser bedankte sich bei allen Anwesenden für den inhaltlich ergiebigen und atmosphärisch angenehmen Gedankenaustausch und erwähnte schon einmal die für das Jahr 2027 geplante nächste Studientagung, dieses Mal in Kooperation mit dem „Arbeitskreis Deutsche Landeskirchengeschichte“ (ADLK) und dem „Verein für Westfälische Kirchengeschichte“ (VWKG).
Auf großes Interesse stießen die eingangs bereits erwähnten vier Punkte, die Geck zur Begründung und Bedeutung der regionalen Kirchengeschichtsschreibung formuliert hatte. Sie seien hier deshalb wörtlich wiedergegeben:
„1. Wertschätzung: Kirchenhistorische Arbeit in der Region ist Ausdruck der Wertschätzung der Menschen, die hier leben. Wenn Pfarrerinnen und Pfarrer die Mitglieder ihrer Gemeinde nach ihrer Geschichte und ihren Geschichten fragen, so wird das schnell ein Seelsorge-Gespräch. Jeder und jede hat eine Geschichte, kennt Geschichten und findet es gut, wenn diese thematisiert werden.
2. Konkretion: Kirchenhistorische Arbeit in der Region ist konkret. Letztlich sind es konkrete Menschen, die in der Geschichte handelnd oder leidend ihre Rolle spielen. Sie ist insofern ein notwendiges Gegengewicht zur Geschichte der großen Nationen, Völker, Staaten und Ideen.
Besonders die „Erinnerungsgeschichte“ hat konkret zu sein. Es geht um die Erinnerung an das Schicksal konkreter Menschen (und deren Nachfahren) sozusagen im eigenen „Schlappenbereich“. Es würde nicht ausreichen, wollte man innerhalb vorgegebener Erinnerungsstrukturen lediglich ein Sentiment bedienen. Ist sie unkonkret, lässt sich Erinnerungsgeschichte leicht als „Schuldkult“ diffamieren und durch Kollektivmythen ersetzen, der die einzelnen Menschen dann zum Opfer fallen. Ist sie konkret, bleibt sie dagegen Stolperstein für menschen- und freiheitsfeindliche Ideologien. Das gilt erst recht in unserer Zeit der Fake-News, in der nur konkretes geschichtliches Tatsachenwissen Orientierung ermöglicht und Desorientierung entlarvt.
3. Selbstfindung: Kirchenhistorische Arbeit dient schließlich der persönlichen und kollektiven Selbstfindung. Zwei Beispiele: Der Kirchenkampf lehrt, dass die Kirche in Bibel und Bekenntnis ein eigenständiges theologisches Fundament hat. Würde sie allein im Jargon der Gegenwart denken, reden, handeln und beten, wäre sie überflüssig.
Lernen lässt sich aber auch, dass die Kirche eine gesellschaftliche und politische Verantwortung hat, die sich aus ihrem theologischen Fundament ableitet, die wahrzunehmen aber noch einmal einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Hier ist es die Kenntnis des Mentalitätswandels der 1960er-Jahre, der Chancen und Grenzen dieses Auftrags heute zu bedenken hilft.
4. Gegenwartsverständnis: Historische Arbeit verhilft schließlich zu einem besseren Gegenwartsverständnis und damit größerer Eigenständigkeit jedes Einzelnen. Man kann schon rein sprachlich besser ausdrücken, wofür man heute stehen möchte. Ich selbst verwende ja nicht so gerne den Begriff „Geschichte-lebendig-machen“. Wer weiß, welche Geister man da weckt! Ich spreche lieber von „Geschichte bedenken“, um zu fragen: Wo kommen wir her, was können wir besser machen, was müssen wir anders machen, wo wollen wir überhaupt hin und warum wollen wir da hin? Solche Fragen braucht es, um über die gegenwärtige Krise hinauszublicken. Der Zeitgeist wird sie uns nicht eingeben. Wir können sie (nur) aus der Geschichte heraus entwickeln.“ (AG)
Foto (v.l.n.r.): Prof. Dr. Norbert Friedrich, Fliedner Kulturstiftung Düsseldorf (Vorsitzender des Friedrich Ehrenberg-Vereins Bochum), Pfr. i.R. Peter Burkowski, ehemaliger Geschäftsführer der Akademien für Kirche und Diakonie und ehemaliger Superintendent des Kirchenkreises Recklinghausen, Prof. Dr. Albrecht Geck, Leiter des Instituts für Kirchliche Zeitgeschichte des Kirchenkreises Recklinghausen, Prof. Dr. Jürgen Kampmann, Prof. em. für Kirchenordnung und Kirchengeschichte des Neuzeit an der Eberhard Karls-Universität Tübingen, Ulf Schlüter, Theologischer Vizepräsident der Ev. Landeskirche von Westfalen, Pfr. Thomas Ijewski, Stellvertretender Vorsitzender des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte, Saskia Karpenstein, Superintendentin des Kirchenkreises Recklinghausen, Steffen Riesenberg, Superintendent des Kirchenkreises Gladbeck-Bottrop-Dorsten, Prof. Dr. Traugott Jähnichen, em. Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum
Foto: Jörg Eilts
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