Telefonseelsorge in Corona-Zeiten (Interview)

Erstellt am 18.05.2020

Pfarrerin Gunhild Vestner im Interview

RECKLINGHAUSEN / HALTERN - Die Telefonseelsorge verzeichnet in Zeiten der Corona-Krise vor allem im Bereich der Chat-Seelsorge rund 30 Prozent mehr Nachfrage. Über die Hintergründe befragte Pfarrer Gert Hofmann (Öffentlichkeitsarbeit) die Leitern der ökumenischen Telefonseelsorge im Kreis Recklinghausen, Pfarrerin Gunhild Vestner.

Gert Hofmann (GH): Liebe Gunhild Vestner, die Telefonseelsorge verzeichnet derzeit eine erhöhte Nachfrage. Wie erreichen euch die Menschen?

Gunhild Vestner (GV): Menschen erreichen die Telefonseelsorge per Telefon und - seit über 25 Jahren - auch über das Internet. Über das Telefon erreicht uns vor allem die etwas ältere Generation, ich sage mal grob „50 plus“. Und über den Chat erreichen wir die junge Generation. 70 Prozent davon sind unter 30 Jahre alt. Die Themen am Telefon sind andere als am Chat.

GH: Welche Themen beschäftigen die Menschen denn jetzt besonders?

GV: Am Anfang von Corona vor allem Corona selbst. Vor allem die älteren Menschen, die um ihre Gesundheit und die ihrer Lieben besorgt waren und die Frage stellten: Wie geht das weiter? Auch die Beschränkungen im Kontakt: vieles ist jetzt anders, und das löst Ängste aus. Das mobilisiert vielleicht auch noch einmal alte Ängste. Und je länger die Zeit dauert, um so mehr Menschen leiden unter dieser Einsamkeit. 

Das ist überhaupt kein neues Thema. Das beobachten wir in den letzten Jahren, dass diese Thema immer größer wird. Wir alle wissen: Einsamkeit macht krank. Wir wissen, wie gesundheitsschädlich Einsamkeit ist. Und die verschärft sich jetzt in dieser Zeit, vor allem für diejenigen, die vorher schon schwierig im Kontakt waren. Für die ist es jetzt nochmal schwerer. Aber wir erleben auch Menschen, die vorher gut vernetzt waren, die jetzt ihre Enkelkinder nicht mehr sehen können. Da wird ein Enkelkind geboren und es gibt überhaupt nicht die Chance, das Kind willkommen zu heißen. Das Thema Einsamkeit beschäftigt also jetzt unterschiedliche Gruppen - und setzt ihnen richtig zu!

Über 100 gut ausgebildete Ehrenamtliche arbeiten rund um die Uhr

GH: Wieviele Mitarbeitende in der Telefonseelsorge gibt es derzeit? Und warum ist die Nachfrage so gewachsen?

GV: Ja, in der Telefonseelsorge Recklinghausen arbeiten über 100 gut ausgebildete Ehrenamtliche mit. Am Telefon und besonders im Chat begegnen wir ebenfalls einem alten Thema, nämlich der psychischen Erkrankung. Wir erreichen insbesondere junge Frauen, erleben, was es für sie bedeutet, immer wieder mit Depressionen zu kämpfen zu haben. Denn das psychosoziale Hilfenetz ist jetzt noch weiter ausgedünnt: sie können ihren Therapeuten, ihre Therapeutin nicht richtig erreichen, persönlicher Kontakt ist nicht möglich, manchmal ist telefonischer Kontakt möglich. Und das ist schwer! Das bringt viele nochmal mehr an den Rand.

GH: Die Telefonseelsorger*innen teilen ja viel von dem, was augenblicklich passiert, haben selbst auch Erfahrung damit. Und dann kommt da aber noch ihre Ausbildung, ihre besondere Kompetenz dazu …

GV: Das ist so! Einige gehören selber zu den Risikogruppen. Wir haben auch einige dabei, die sich selber unter Quarantäne setzen müssen. Einige, die erleben, was es bedeutet, wenn ich meine Tochter oder meinen Sohn nicht sehen oder das Enkelkind nicht begrüßen kann. Was Corona macht, das erleben wir alle am eigenen Leib. Und von daher ist das auch eine Brücke zu dem, was die Ratsuchenden beschäftigt. - Gerade in diesen Zeiten sind die Mitarbeitenden sehr engagiert. Sie leisten so viele Schichten am Telefon, aber auch am Chat, wie in anderen Zeiten nicht. Durch eine technische Veränderung konnten wir auch die dreifache Zahl an Chats realisieren. Und darüber bin ich froh, dass die Nachfrage und das, was wir anbieten können, einigermaßen zusammenpasst. Von daher: Nutzen Sie es, rufen Sie an, nutzen Sie den Chat!

Die Krisen-Kompass-App - ein Art persönlicher Notfallkoffer

GH: Für viele ist ja das Smartphone das Mittel, um in Kontakt zu gehen. Ihr habt deshalb als Telefonseelsorge eine neue App entwickelt, einen Krisen-Kompass. Kannst du mal erklären, wie der funktioniert?

GV: In jedem dritten Gespräch im Chat geht es auch um den Gedanken der Selbsttötung. Wenn es hart auf hart kommt, kann die Leitung besetzt sein. Es kann sein, dass kein freier Chattermin da ist. Von daher haben wir gesagt: wir programmieren eine App, die jetzt in jedem App-Store runtergeladen werden kann.

Die ist eine Art Notfallkoffer für Menschen, die sich mit dem Gedanken der Selbsttötung herumquälen. Aber auch für Menschen, die durch Suizid einen Menschen verloren haben - das ist nochmal eine besondere Trauer, das ist sehr schwer zu überleben. Und diese App ist auch für Menschen, die sich Sorgen machen - um die Freundin, um den Freund, um die Tochter, um den Sohn. 

Und in diesem Krisen-Kompass finden Sie ganz ganz wertvolle Hinweise, Informationen. Sie finden dort Möglichkeiten, wie Sie sich selbst stärken können. Es geht darum, mit den eigenen Kraftquellen wieder in Verbindung zu kommen. Der Kompass lebt davon, dass Sie ihn selbst bearbeiten … Da sind Songs und Texte darin. 

Das Entscheidende ist, dass ich ihn für meine Bedürfnisse selbst aufbauen kann. Es geht darum, Wissen zu stärken. Krisenmomente, in die ich unweigerlich kommen, zu bestehen, zu überstehen. Mögliche Kraftquellen aufzuspüren. Informationen für Hilfenetze zu finden und klären, mit wem ich in Kontakt kommen will. Diese App lebt davon, dass sie individuell bearbeitet wird. Das ist mein ganz persönlicher Notfallkoffer für diese Krisensituation.

GH: Welche Chancen siehst du denn als Pfarrerin in dieser Krise?

GV: Ich sehe beides: Es ist eine riesige Belastung und Herausforderung, für jeden persönlich und für diese Gesellschaft. Und gleichzeitig sehe ich Chancen, die jede Krise hat. Weil wir merken: Wir können nicht mehr weiter wie gewohnt. Wir müssen neue Wege finden. Und insofern ist eine Krise auch immer ein Moment der Freiheit, wo ich mein Leben noch einmal anders angehen kann oder auch muss. Und wir merken als Gesellschaft: das Gewohnte ist gar nicht so selbstverständlich. Wir spüren in dieser Zeit noch einmal mehr, was uns wichtig ist. Was uns tatsächlich trägt: das Zusammenhalten, die Solidarität, wirklich Rücksicht auf die Schwächsten der Gesellschaft zu nehmen. Das ist es, was wir entdecken können. Konsum ist vielleicht auch nicht so wichtig.

Ich persönlich genieße den strahlenden, unberührten Himmel über dem Ruhrgebiet, nicht zerkratzt durch diesen Flugverkehr. Mich erinnert das an alte Zeiten. Ich denke immer: du musst noch einmal ein Bild machen, von diesem Himmel!

Im Blick auf Klima und Naturschutz, da können wir auch noch etwas lernen. Jetzt haben wir die Chance, diese Gesellschaft und auch die Wirtschaft anders wieder hochzufahren. Im Blick auf unseren sozialen Zusammenhalt können wir Neues entdecken, wie auch mit Blick auf unsere Wirtschaft.

GH: Vielen Dank für das Gespräch!

Das (hier leicht gekürzt wiedergegebene) Interview fand am 11. Mai im Paul-Gerhardt-Haus der Evangelischen Kirchengemeinde Haltern statt.

Die Videoaufnahme des Interviews durch Presbyter Klaus Tykwer ist auf dem Youtube-Kanal der Evangelischen Kirchengemeinde Haltern zu sehen.